Die Titel von Stefan Reichmanns Plastiken sind so einfach wie verräterisch. Sie lauten: Sitzende, Große Liegende, Porträt X, Kleine Sitzende, Hockende, Kleiner Kopf und dergleichen - oder sie tragen Frauennamen. Heißt eine Judith, dann wissen wir, es ist die Judith, die Reichmann kennt und nicht die, die dem Holofernes das Haupt abschnitt. Reichmann ist dem Mythos abhold, er schätzt keine Metaphern und keine Symbole. Seine Frauengestalten stehen nicht für Naturereignisse oder Legenden kollektiver Erfahrung. Sie sind Naturereignisse und individuelle Befunde. Sie bedeuten nichts, was außer ihnen selbst wäre, sie erzählen nichts, was der Bildhauer nichts selbst gesehen hätte. Vielleicht täuschen sie etwas vor, was er sich wünscht, aber auch das ist nicht sicher, denn einer Schönheitsvorstellung, auf die man sich einigen könnte, sind sie nicht verpflichtet. Sie wissen von nichts außer von ihrer Körperlichkeit. Sie sind weise in ihrer Einfachheit und absolut in der subtilen Konstruktion ihrer Seinsform, sie vertreten nichts, sie sind. Manchmal ragend und stark. Manchmal versunken und melancholisch: post coitum animal triste, wie auf den Bildern von Lucian Freud oder voll vom erotischen Geheimnis wie bei Balthus. Nur daß sie ohne Attribute auskommen, keinen Hinweis auf den Raum geben, in dem sie existieren. Es sind Skulpturen, die ihren Raum selbst schaffen, selbst Raum sind.

Kann man so etwas heute noch machen? Kann man das kunsthistorische Inventar mit sich tragen und zugleich souverän mißachten? Kann man die Figuren "bauen" und sie zugleich in die eigene Faszination einhüllen, unbekümmert um die sozialen Subtexte? Ist Erotik in der Kunst überhaupt noch darstellbar, kann sie visuell erfahren werden in einer Bilderwelt, die fast ausschließlich noch über sexuelle Zeichen funktioniert?

Reichmann lächelt über solche Fragen, er beantwortet sie seit zweieinhalb Jahrzehnten durch Gleichmut: den immergleichen Mut, sich gegen die Konvention der unausweichlichen Erneuerung zu stellen durch Zitat und Neuerfindung einer anderen, viel älteren Konvention, durch eine Ferne, die so nah ist, daß die archaische Lust daran wieder als etwas ganz Gegenwärtiges erscheint. Man könnte viele Vergleiche herbeizitieren, Maillol, Rodin Kolbe, Klimsch, Kasper - aber das bringt keine Einsicht. Jeder von diesen war seinem eigenen Raum, seiner eigenen Zeit verpflichtet. Sie bilden einen Hintergrund, der sehr verschieden ist von dem der Giacometti oder Lehmbruck, auf die die Moderne sich bis heute beruft. Reichmann nimmt es in Kauf, daß er mißverstanden werden kann als Stichwortgeber neukonservativer Ordnungsideale, als unschöpferischer Repetitor längst abgearbeiteter Formen oder gar als manischer Gestalter der eigenen Obsessionen.

Es interessiert ihn nicht. Das Neue ist keine Kategorie, die es zu erobern gilt, die Wiederholung auch nicht. Wo immer man eintaucht in den Fluß der kunstgeschichtlich präsenten Bilder: es geht nicht darum, mit ihm zu schwimmen sondern um den Gewinn von Tiefe. Das läßt einen anderen Blick auf die Werke zu, nicht immer halten sie ihm stand. Wie sollte das auch anders sein, wenn erratische Blöcke das Terrain absichern, auf dem der Künstler sich bewegt? Man muß bereit sein, Stefan Reichmanns asynchroner Idee zu folgen, die die sinnliche Figuration als längst nicht ausgeschöpftes Vokabular der Kunst versteht, um die dezenten Irritationen darin wahrzunehmen. Das ausformulierte Regelwerk dieser Sprache läßt feine Nuancen von Oberfläche und Volumen, von Haut und Körperform nur umso deutlicher aufscheinen. Und hier tritt die Differenz von Wahrnehmung und Wirklichkeit hinzu - als Differenz zwischen dem erotischen Appell im Diesseitigen, der Verinnerlichung körperhafter Impulsivität und dem künstlerischen Problem der ideengebenden Verbindung von Skulptur und Raum. Reichmann geht kurze Schritte, so sichert er sich vor Erschöpfung.

Matthias Flügge

Bildhauer im Atelier Stefan Reichmann - im Hintergrund Plastiken aus Stein, Gips und Bronze